Schule und Bildung für Demokratie in Bayern
70 Jahre nach dem Ende von Diktatur und Krieg gibt es hierzulande eine Besorgnis erregende Entwicklung weg von demokratischen Werten. Geringes Interesse an Politik und eine resignative Grundhaltung ihr gegenüber, die Zunahme übergriffigen Verhaltens, nachlassende Wahlbeteiligung insgesamt und geringe Wahlbeteiligung der Erstwähler im Besonderen sowie ein zunehmend rechtslastiges Wahlverhalten sind nur einige der Befunde. Der gegenwärtige Zustand von Wohlstand und Frieden schafft aus sich heraus keine Not, über seine Ursachen nachzudenken. Somit muss das Bewusstsein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf anderen Wegen geschaffen werden. Der Bayerische Elternverband sieht sich veranlasst, über die Bildung eines demokratischen Bewusstseins nachzudenken, insbesondere über die Rolle, die Schule dabei spielt.
Erziehung zur Beachtung der gesetzlichen und verfassungsmäßigen Spielregeln, sei es im politischen wie auch im privaten Umfeld, ist eine Aufgabe sowohl für Eltern als auch für Schule. Dabei kommt jedoch der Schule ein besonderer Stellenwert zu, denn sie agiert zuverlässig unabhängig von Weltanschauungen, politischen oder persönlichen Ansichten. Außerdem ist sie die einzige Institution, die alle jungen Menschen durchlaufen müssen. Ihr kommt somit eine Schlüsselrolle zu.
Die Handreichung des ISB „Gesamtkonzept für die Politische Bildung an bayerischen Schulen“ verortet auf S. 12 die politische Bildung wie folgt:
„Politische Bildung in der Schule … ist
- als fächerübergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel „Politische Bildung“ Unterrichtsprinzip in allen Fächern (…),
- als selbstständiger Unterrichtsgegenstand insbesondere in den Leitfächern der Politischen Bildung fest in den Lehrplänen verankert (…),
- im Rahmen von Einrichtungen zur Mitgestaltung des schulischen Lebens wirksam (gemäß Art. 62-73 BayEUG, …).“
Auf diese Bereiche und ihre Verifizierung in der Schulpraxis gehen wir im Folgenden kritisch ein.
1. Überschätzung des fächerübergreifenden Unterrichts bei dem fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsziel „Politische Bildung“
„Politische Bildung in der Schule … ist …als fächerübergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel „Politische Bildung“ Unterrichtsprinzip in allen Fächern (…).“ [1]
Die fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsziele, welche Demokratieerziehung betreffen, sind in den Lehrplänen ausnehmend gut dargestellt, z. B. mit
- Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Politische Bildung
- Kulturelle Bildung
- Interkulturelle Bildung
- Soziales Lernen
- Werteerziehung
Allerdings kann die auf Papier dokumentierte Absicht, dies in vielen Fächern aufzugreifen, dem Unterrichtsalltag nicht standhalten. Zum einen ist dort nirgends formuliert, dass diese Ziele nicht nur kognitiv vermittelt, sondern auch in die Unterrichts- und Schulpraxis einbezogen werden, sprich mit Leben erfüllt werden müssen.
Zum anderen sichern die Lehrpläne keineswegs, dass der Unterricht tatsächlich breit fächerübergreifend auf den Themenkomplex Staat und Demokratie zugreift. So findet sich etwa im Lehrplan keine Garantie dafür, dass der Erwerb der im Fach Deutsch geforderten Kompetenzen anhand nennenswerter Mengen staatsbürgerkundlicher, politischer, moralischer oder sozialer Themen oder Texte passiert. Es kann vermutet werden, dass dies dem Schulprofil oder dem Gestaltungsspielraum der einzelnen Lehrkraft überlassen bleibt. Ferner gehen wir davon aus, dass die fächerübergreifenden Bildungsziele in Zeiten großen inhaltlichen und Prüfungsdrucks auf der Strecke bleiben und somit die politische Bildung weitgehend dem Fach Sozialkunde überlassen bleibt. Dies verifiziert sich anhand Punkt 2.
2. Schüler wissen zu wenig – Überforderung des Fachs Sozialkunde
„Politische Bildung in der Schule … ist … als selbstständiger Unterrichtsgegenstand insbesondere in den Leitfächern der Politischen Bildung fest in den Lehrplänen verankert.“ [2]
Ältere und neuere Untersuchungen bestätigen unseren subjektiven Eindruck, dass Schüler in Deutschland nur lückenhafte Kenntnisse über die Geschichte und die Struktur unseres Staates haben. Dem entspricht, dass das zur Vermittlung entsprechender Kenntnisse vorgesehene Fach Sozialkunde - nur an der Mittelschule: Geschichte/Geographie/Politik - eine nur marginale Rolle spielt, zu spät einsetzt und nicht über schulische Abschlüsse entscheidet.
Die Vermittlung von Kenntnissen und Kompetenzen in Sachen Staatsbürgerkunde ist explizit nur in den Lehrplänen für Sozialkunde vorgesehen. Die ebenfalls zu den Leitfächern der politischen Bildung zählenden Fächer Geographie und Geschichte können jedoch ihrer Art nach Kenntnisse lediglich vertiefen, kaum aber grundlegend vermitteln, so dass man sie nicht zur politischen Grundbildung im Sinne von Wissenserwerb rechnen kann.
Auch in den Lehrplänen des Fachs Ethik werden wichtige Kompetenzen beschrieben, die von zwischenmenschlichen über menschenrechtliche bis hin zu staatsbürgerlich-demokratischen Belangen reichen. Ethik wird jedoch nicht von allen Schülern besucht. Schülern, die den Religionsunterricht besuchen, steht dafür weitaus weniger Zeit zur Verfügung, da die konfessionellen Fachinhalte in den Lehrplänen für Religion deutlich mehr Raum einnehmen. Somit entfaltet der Ethikunterricht keine breite Wirkung. Zwar formulieren auch die Lehrpläne für Sozialkunde eine Fülle von Kompetenzen dieser Art. Anhand eines Beispiels aus dem Lehrplan für Sozialkunde der 8. Klasse des Gymnasiums lässt sich gut darstellen, dass der hier formulierte Anspruch dieses einstündige Fach überfordert. Aus den fünf zu erwerbenden Kompetenzen der 8. Klasse hier nur der Auszug „Wertekompetenz“:
„Wertekompetenz beinhaltet, sich mit ethischen Begründungen und Deutungen auseinanderzusetzen, die ethischen Begründungen politischer Entscheidungen zu analysieren, Wertvorstellungen zu vergleichen und eigene demokratische Wertvorstellungen und Einstellungen zu entwickeln, diese zu vertreten, zu leben und ggf. auch zu verteidigen.
Nur wer die Wertorientierungen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden, Menschenwürde, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit etc.) verinnerlicht hat, kann politische Prozesse und Entscheidungen vor dem Hintergrund unserer Wertordnung kritisch beurteilen und Mehrheitsentscheidungen nachvollziehen. Ein in diesem Sinne kompetenter Mensch nimmt seine Kontrollfunktion als Bürger oder Bürgerin in der Demokratie wahr und wird gerade auch bei Fehlentwicklungen aktiv, um insbesondere durch die Beteiligungsmöglichkeiten in der Demokratie in die politische Auseinandersetzung einzugreifen.“
Es liegt auf der Hand, dass man sich dem, neben vier weiteren Kompetenzen, in einem Schuljahr mit nur einer Unterrichtsstunde je Woche kaum auch nur annähern kann.
3. Schüler haben derzeit in bayerischen Schulen kaum Chancen, Demokratie zu „leben“
Zu „Politische Bildung in der Schule … ist … im Rahmen von Einrichtungen zur Mitgestaltung des schulischen Lebens wirksam (gemäß Art. 62-73 BayEUG).“ [3]
Fast alles wird in der Schule ohne Beteiligung der Schüler entschieden. Für das Gros der Schüler ist die einzige demokratische Aktivität einmal im Jahr die Wahl des Klassensprechers. Nicht selten wird diese Wahl in den letzten fünf Minuten einer Stunde „zwangserledigt“ – dies lässt die zur Vermittlung demokratischer Prozesse notwendige Wertschätzung vermissen. Demokratie zu lernen geht vor allem „by doing“. Der Rahmen dafür ist in der Schule deutlich zu eng, Handlungsfelder gibt es meist nur für Klassensprecher, Schülersprecher und im Schulforum. Zu wenige Schüler werden somit wirklich aktiv. Das vielerorts nur geringe Engagement in den wenigen Mitwirkungsmöglichkeiten erklären wir uns aus der Unlust angesichts der nur marginalen Chancen, selbst etwas Bedeutendes zu bewirken, am fehlenden Feedback sowie am geringen Interesse der Schule an den Wünschen der Schüler.
Es muss gefragt werden, wie Schüler angesichts ihres allzu übersichtlichen Übungsfelds in der Schule lernen sollen,
„… ihre Kontrollfunktion als Bürgerin oder Bürger in der Demokratie wahrzunehmen und … altersgemäß an politischen und gesellschaftlichen Diskursen mit[zuwirken], indem sie sich in der Schule und im Rahmen der jeweils bestehenden Möglichkeiten innerhalb der demokratischen Ordnung auf kommunaler, landes-, bundes- bzw. europaweiter Ebene aktiv beteiligen.“ [4]
Für diese Aufgabe muss sich die Schule gewaltig ändern. Sie muss das Feld für Beteiligungsmöglichkeiten der Schüler stark erweitern. Pflichten wie Tafelwischen sind selbstredend wichtig, werden aber nicht als reizvoll empfunden. Für unattraktive Beteiligungsmöglichkeiten (aber keineswegs nur für diese!) muss Wertschätzung im Sinne einer Feedbackkultur etabliert werden.
Auch muss den Schülern die Bedeutung ihrer engagierten Mitsprache direkt vor Augen geführt werden. Dies dürfte am besten gelingen, wenn sie mit dem Ergebnis ihrer Entscheidung direkt konfrontiert sind, wie z. B. bei
- der eigenen Auswahl des Lernmediums
- der Selbstgestaltung ihres Lernprozesses
- der Pausenregelung
- der Schulverpflegung
- der Raum- und Gebäudegestaltung
- der Handynutzung
- einem von Schülern paritätisch mitverfassten Schulvertrag
Leider geben bisher nur einzelne Schulen beeindruckende Bespiele hierfür.
Sollen die Äußerungen von Schülern morgen zum politischen Leben beitragen, so müssen sie schon heute ernst genommen werden. Dies gilt auch für unbequeme Ansichten (maßvolle Diskussion führen) oder Äußerungen zu ihrem Befinden (zuhören, wahrnehmen). Andernfalls ist die zeitige Resignation vorprogrammiert. Schüler müssen erfahren, dass ihre Meinung, ihre Haltung, ihr Befinden Relevanz entfaltet.
4. Schlichtung bei Streitigkeiten innerhalb der Schulfamilie
Die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Eltern und Schule oder zwischen Schülern und Schule obliegt, soweit sie nicht auf dem Rechtsweg ausgetragen werden, immer einer dem Kultusministerium untergeordneten Behörde. Dies vermittelt den Eindruck eines autoritären Systems, bei dem letztlich Eltern und Elternvertreter, Schüler und Schülervertreter ins Hintertreffen geraten, weil sie am kürzeren Hebel sitzen.
Dass dieses Verfahren nicht den Grundsätzen der Demokratie entspricht, leuchtet unmittelbar ein. Wenn die Schule ein demokratischer Organismus sein soll, muss hierfür im Sinne von Gewaltenteilung eine unabhängige Schiedsstelle zur Verfügung stehen.
Schüler verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule, von diesem Ort sollen sie demokratisches Leben lernen. Aus der jetzigen Form der Entscheidung bei Auseinandersetzungen lernen sie jedoch, dass das, was sie im Unterricht gelernt haben, nicht einmal innerhalb der Schule der Wirklichkeit standhält. Resignation ist die Folge. So wird in der Schule ganz nebenbei das Vertrauen in die Demokratie untergraben.
Forderungen des Bayerischen Elternverbands
- Demokratie muss nicht nur gelehrt, sondern vor allem erlebt und praktiziert werden
- Schüler müssen künftig möglichst viel mitsprechen und mitentscheiden:
- Klassenrat und Schülerrat müssen eingerichtet werden und regelmäßig tagen
- Basisdemokratische Erhebungen unter Schülern einführen, z. B. für wichtige Voten der Schülervertreter im Schulforum
- Förderung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit im Unterricht
- Der Sozialkundeunterricht muss deutlich früher einsetzen, mehr Stunden und für alle Schulabschlüsse Relevanz bekommen
- Die Vermittlung der Inhalte und Kompetenzen des Fachs Ethik muss auch für Schüler, die den Religionsunterricht besuchen, sichergestellt werden
- Modelle und Projekte wie ganze „Demokratietage“, „demokratischer Montag“ (an einem Tag je Woche wenige Minuten für kleine Aktionen), oder „Politische Pause“ müssen selbstverständlich werden
- Feedbackkultur etablieren
- Demokratie muss zum Ziel innerhalb der Schulentwicklung werden
- Demokratische Schulkultur wird Bestandteil der Ausbildung von Lehrkräften, verpflichtende Fortbildungen für Lehrkräfte
- Ausbildung der Lehrkräfte für das Fach Sozialkunde erfolgt künftig an der Universität
- Einrichtung einer unabhängigen Schlichtungsstelle für Auseinandersetzungen innerhalb der Schulfamilie
Text: Henrike Paede, März 2018
[1] Handreichung des ISB „Gesamtkonzept für die Politische Bildung an bayerischen Schulen“ S. 12
[2] Ebd. Seite 12
[3] Ebd. Seite 12
[4] Ebd. Seite 9
Das gesamte Positionspapapier zum Herunterladen
BEV-Position_Demokratieerziehung_20180630.pdf98 KB
Position des Bayerischen Elternverbands zur Demokratieerziehung „Schule und Bildung für Demokratie in Bayern“